Nachwort
von Elfriede Jelinek
zu: «Tränen allein genügen nicht»
© bei Elfriede Jelinek
von Zacharias Zweig und Stefan Jerzy Zweig
(erscheint im Selbstverlag)
Ich fange an. Ich höre auf. Ich habe noch nicht einmal angefangen. Ich habe noch nicht einmal aufgehört. Es ist nichts zu sagen in einem Nachwort zu einem Buch, in dem schon alles gesagt ist. Man kann versuchen, etwas zu sagen, aber die leeren Stellen, von denen dieses Buch handelt, das ursprünglich im Selbstverlag herauskommen musste, (weil es keinen Verleger gefunden hat, der nicht selbst das Wort hätte führen wollen), sind nicht leer, sie sind mit Menschen vollgeschrieben, die nicht sein durften, weil sie nicht mehr sein durften, auch nicht weniger, sondern gar nicht. Der Autor, Stefan Jerzy Zweig, Sohn des Dr. Zacharias Zweig, vor der Nazi-Okkupation Rechtsanwalt in Polen, Ehemann einer ermordeten Ehefrau, Vater einer ermordeten Tochter und eines Sohnes, hat dieses Buch geschrieben, weil er es schreiben musste um sich immer wieder selbst zu vergewissern (und um sie zu ehren), dass es diese Menschen einmal wirklich gegeben hat (er hat sie in einem Stammbaum der mütterlichen und väterlichen Linie aufgelistet, noch einmal, denn auf Listen sind sie alle gestanden, und er hat aufgeführt, wie viele und welche davon es jetzt nicht mehr gibt, weil sie umgebracht worden sind, im Stammbaum stehen sie noch, aber sie sind gleichzeitig ausradiert). Im Grunde kann man über dieses Buch hinaus nichts mehr sagen, auch zu dem Buch nichts und nach dem Buch schon gar nichts. George Tabori, auch ein Überlebender, hat einmal darauf hingewiesen, dass im Deutschen der berühmte letzte Satz Hamlets: the rest is silence immer falsch übersetzt werde. Es heißt nicht, der Rest sei Schweigen, sondern: der Rest ist Stille. Aber der Rest ist, inmitten zahlloser Gedenkfeiern und der vielen Worte, die dabei, nein, nicht verloren, auch nicht gefunden, verstreut werden, und danach zerstreuen sich die Menschen wieder über der ausgestreuten Asche, nein, das kann man alles nicht sagen, man kann nichts sagen, das ist mir bewusst, aber der Rest ist also eine Stille, die im Ausstreichen von Namen, eines bestimmten Namens aus einer Liste besteht. Und später im Ausstreichen eines Namens aus dem kollektiven Gedächtnis, das sehr ungebildet ist oder jedenfalls kaum gebildet, in der Entfernung einer Gedenktafel vor der ehemaligen Effektenkammer der Gedenkstätte Buchenwald. Ich lese den ergreifend sachlichen, ruhigen, distanzierten Bericht des Vaters, des polnischen Rechtsanwalts Dr. Zacharias Zweig, und ich verstehe ihn nicht, obwohl man einfacher als er gar nicht schreiben könnte, in einer Art Objektsprache der zur Auslöschung Bestimmten, einer Sprache, die um nichts mehr kämpft, weil das schreibende Subjekt zu nichts weniger als der Ausrottung bestimmt war, und wer es geschafft hat zu überleben, der schuldet dem System der Ausrottung demnach immer noch ein (1) Stück Leben, ein Stück unter Millionen. Damit Stille ist, müssen Schulden bezahlt werden. Das Schweigen dieser Millionen Vernichteten ist ein Schweigen, das an sich halten muss, auch wenn es in diesen Feiern immer wieder vor uns hingeschüttet wird, es ist letztlich ein verschlossenes Schweigen, dem wir ausgesetzt werden, weil wir den Andrang all des Seins, das vernichtet wurde, nicht standhalten könnten. Daher die Leere des Schweigens, und bald wird es nicht einmal mehr eine Aufgeschlossenheit dafür geben, die zeigen könnte, warum dieses Schweigen gleichzeitig da ist und nicht da, eben ein blinder Fleck, auch wenn der noch so viele Verlautbarungen eines Niemals Wieder hervorbringen mag. Und darin treiben Untote ihr Unwesen.
Vielleicht ist Stefan Jerzy Zweig so ein Untoter, weil er sein Leben noch schuldet. Er hat es noch nicht hergegeben. Das Buchenwald-Kind, wie er genannt wird, schuldet sein Leben, heute noch. Ja, mit uns können Sie rechnen, mit uns können Sie aufrechnen, mit uns können Sie alles niederrechnen, ja, auch hochrechnen, von mir aus, aber es kommt immer dabei heraus, dass Stefan Jerzy Zweig eigentlich tot sein müsste, dass ihnen einer (und mit ihm sein Vater) ausgekommen ist, entkommen. Mehr bzw. weniger als das. So schreibt der Schriftsteller Hans Joachim Schädlich in seinem Roman «Anders», dass für dieses dreieinhalbjährige Kind ein andrer tot ist, ein 16-jähriger Sinti sei für das Kind, also: an Stelle des Kindes, gestorben. Dieses Buchenwald-Kind, der Bub, der mit drei Jahren dorthin gekommen ist, unter unfassbaren Umständen ruhiggestellt, versteckt, geschützt von den «roten Capos», den «Politischen», ist ein blinder Fleck unter zahllosen andren blinden Flecken, und er ist seinen Tod also immer noch schuldig geblieben. Der Vater schuldet ihn natürlich auch, den Tod, jeder, der der Totalität seinen Tod entreißen konnte, bleibt ihn in Wirklichkeit schuldig, denn das Wort führen die Täter, auch nach der Tat, und sie führen es fürsorglich; der Vater also, der zwecks Zuerkennung seiner kleinen Entschädigung nach der Befreiung nachweisen muss, dass er zum «deutschen Sprach- und Kulturkreis» dazugezählt werden kann, und das tut, indem er Goethe und Schiller in deutscher Sprache referiert (schließlich liegt Buchenwald bei Weimar!), aber ein Zurechnungs-Prüfer, nein, nicht Gott, ein besonders zurechnungsfähiger Prüfer wie von Kafka erdacht, ist der Meinung, dies reiche als Beweis dieser Zugehörigkeit nicht aus, weil dieses Wissen bei «jedem jüdischen Intellektuellen vorausgesetzt werden könne», der Vater also durfte als eine Art Illegaler des Lebens, noch ein wenig weitermachen, zuerst in Frankreich, dann in Israel. Ausradiert aus dem Kreis der Kultur bleibt, was einmal gelöscht war, es hat dann das Recht über sich selbst verloren. Der Nachweis, dass man immer noch lebt, weil man auch vor dem Tod einmal gelebt hat und nach dem Tod weiterlebt, diesen Nachweis führt die Sprache im Mund, und sie ist zugänglich. Sie ist unzugänglich. Dieses Buch ist so vollgeschrieben, mit einer solchen Entschlossenheit des Sprechens (und gleichzeitig der Verschwiegenheit, denn es wird diesem streng die Wahrheit Sprechen des Vaters Zweig nichts hinzugefügt, keine dichterischen Schnörkel, keine beschönigenden oder das Grauen verstärkenden Floskeln), dass der Eindruck entstehen muss, die Sprache wäre mit dem Wesen des, jedes Menschen irgendwie verschmolzen, sie gehörte zum Menschen, der zu entscheiden hat, ob er die Wahrheit sagen will oder nicht, aber das kann nicht sein: Hannah Arendt weist darauf hin, dass «je entschlossener der Berichterstatter in die Welt der Lebenden zurückgekehrt ist, desto stärker wird ihn selbst der Zweifel an seiner eigenen Wahrhaftigkeit ergreifen, als verwechsle er einen Alptraum mit der Wirklichkeit». Das ist hier, in diesem Buch, nicht so. Es ist anders. Sie können das nachlesen, wieso es anders ist. Ich kann es Ihnen nicht erklären. Es ist vielleicht deshalb anders als die Aussagen derjenigen, die selber nicht glauben können, was sie erlebt haben, es ist vielleicht deshalb anders, weil der Sohn Stefan J. seinen Tod eben noch schuldig ist, wie man ihm nachträglich gesagt hat. Etwas schuldig zu bleiben, heißt, schuldig zu sein. Her mit dem Leben! Nicht Geld oder Leben – nur das Leben, das genügt schon. Es ist die Gedenktafel mit dem Namen des dreieinhalbjährigen jüdischen Kindes aus der Gedenkstätte Buchenwald entfernt worden, es ist mit ihr auch der Name entfernt worden (für einen Juden das Schlimmste, eine neuerliche Löschung seines Lebens) und durch eine allgemein gehaltene Inschrift ohne Namen ersetzt worden, weil die Identifikation des Einzelnen (und damit das Leben selbst, das immer das Leben von Einzelnen ist) nicht erlaubt werden kann. Das Wort haben die Nachgeborenen, und sie können beliebig steuern, wie es gewesen zu sein hat: Es hat doch schon Anne Frank mit ihrem Tagebuch viel zuviel Staub aufgewirbelt, wir können im neuen Deutschland nicht dulden, dass es da rote Capos (Kommunisten, Sozialisten aller Richtungen und Schattierungen, der Widerstandskämpfer Robert Siewert und der Nachkriegs-Gewerkschaftsführer Willi Bleicher sollen für sie alle stehen) gibt, die Menschen gerettet haben. Namenloser Staub ist dazu da, über namenlose Felder ausgestreut zu werden, aus hochaktiven Schornsteinen, er ist nicht dazu da, die Figuren von Menschen nachzubilden, die ausgespart, gerettet wurden. Auge um Auge. Jude um Sinti und Rom. Es muss alles seine Ordnung haben, und es wird ausgerechnet und wieder abgerechnet. Es macht der Schriftsteller H. J. Schädlich seine Rechnung mit dem realen Sozialismus, indem er ausrechnet, dass Stefan J. Zweig einen Tod schuldet, und zwar den eigenen, und dafür hat er einen fremden Tod genommen, will Schädlich uns also sagen. Damit die Rechnung aufgeht und die Menschen endlich abgehen, die ohnedies keinem abgehen. Und Hans Joachim Schädlich bricht jetzt also mit seinem Sprechen das Schweigen, mit dem er einen andren bricht, dem er auf seinem Rechnungszettel nachweist, dass es für ihn einen andren nicht gibt, dass er gefälligst selber tot zu sein hat, er kann keinen anderen schicken, er muss schon selber kommen und wieder gehen. Das wird einem damals knapp vierjährigen Kind gesagt, das danach, als Erwachsener, überhaupt keine Erinnerung an diese Zeit mehr hatte. Schädlich gibt ihm freundlicherweise diese Erinnerung, denn er weiß es natürlich. Er war ja nicht dabei, und daher war er erst recht dabei. Er hat die Übersicht. Er hat sie aus Listen gewonnen. Diese Absurdität fügt sich in die Erfahrung, dass wirklich alles möglich ist, auch das Unmögliche. In der Totalität der Vernichtung im KZ ist es buchstäblich egal, ob die Insassen zufällig am Leben bleiben oder nicht, sie sind, wie Hannah Arendt sagt, von der Welt der Lebenden wirksamer abgeschnitten, als wenn sie gestorben wären, weil der Terror Vergessen erzwingt. Der Mord geschieht ganz ohne Ansehen der Person, er kommt dem Zerdrücken einer Mücke gleich. Aber der Autor H. J. Schädlich rechnet mit Personen, indem er sie gegeneinander aufrechnet, und er kann dabei mit mehr Aufmerksamkeit rechnen als die im Schatten Gebliebenen oder Schatten Gewordenen (was die SS im Lager letztlich ja auch getan hat, die Rechnung musste stimmen, Ordnung muss sein. Jedem das Seine, wie es über dem Lagerportal geschrieben stand. Wenn zuwenig Lagerinsassen da sind, müssen halt ein paar mehr am Leben gelassen werden, ist das Lager überfüllt, müssen auch mehr umgebracht werden). Rechnen, rechnen, rechnen. Das Ergebnis ist ein Zustand, in dem Tod wie Leben gleich wirksam verhindert werden.
Es ist alles in diesem Buch aufgeschrieben. Ich kann nichts weiter dazu sagen, ich kann es nicht fassen, nicht umreißen, nicht einkreisen, ich kann nur sagen, dass man das lesen soll. Zwei Opfer sprechen hier selbst. Das versteht sich nicht von selbst, das heißt, das Schweigen übers Knie brechen. Das spricht noch nicht für sich. Sie müssen es selber tun, weil es kein andrer tut. Das Sprechen erklärt sich nicht durch das Sprechen. Noch ein andrer hat für sie gesprochen, Bruno Apitz mit seinem verfilmten Weltbestseller «Nackt unter Wölfen», ohne mit den Menschen ein einziges Mal gesprochen zu haben, die seine Protagonisten sind (der Einfachheit halber lässt er den Vater Zweig gleich auch sterben, obwohl er doch überlebt hat! Ein symbolischer Tod, es kommt nicht mehr drauf an, einer mehr oder weniger... die Sprache bricht das Schweigen so wie beim Knobeln das Papier den Stein einschließt und gewinnt oder die Schere das Papier schneidet), so wird der Romancier aus der inzwischen untergegangenen DDR, indem er das Schweigen bricht (während doch die wahren Beteiligten bereits gesprochen haben, aber die ergreifende Beschreibung von Dr. Zweig wurde nur in einer winzigen Auflage gedruckt, gekürzt, zensiert, die außerdem längst verschollen ist), zu einem Zellenschließer, und er schließt immer nur zu, nicht auf, denn seine «Wahrheit» ist in Wirklichkeit ein Verschleiern der Wahrheit, indem er misst, wofür er kein Maß hat (auch Bruno Apitz, der Autor von «Nackt unter Wölfen» war zwar selbst in Buchenwald, hat aber die Zweigs dort nie getroffen. Er hat aber mit ihnen sehr viel Geld verdient, wie der kleine Ministerialbeamte Dr. Zweig in seinem Substandardzimmerchen in Israel noch erfährt), indem er dem Andrang der Wahrheit, von soviel Wahrheit, tapfer standhält, nichts leichter als das. Wenn so viele sterben, warum sollte die Wahrheit da nicht auch sterben, dieses arme verhungerte kleine Kerlchen? Und die Grundfrage: Wenn einer etwas schreibt, in welchem Zusammenhang steht dann seine Sprache mit dem, was sie beschreiben will? Sie schulden also ihr Leben, und der Sohn Stefan Jerzy spricht für den Vater mit, der in Israel als kleiner Beamter im Finanzministerium in seinem winzigen Zimmer haust, an dessen Fenster noch Zeitungspapierreste von der letzten Kriegsverdunkelung kleben (wenn der Sohn zu Besuch kommt, wird eine Matratze dazugelegt, dann ist die Wohnung aber wirklich voll bis zum Rand), jetzt ist nur er noch da, und er spricht mit dem Vater, den er in seinem Buch auch selber sprechen lässt, aber die beiden sprechen Klartext, wie man so schön sagt. Das Wesen der Sprache kann ein Unwesen sein. Aber Stefan J. Zweig bleibt der Sprache im Wort und damit dem, was gewesen ist. Stefan J. Zweig – ein wütender Mann, ein Marsyas, der sich selbst die Haut abzieht, nein, dem es die Haut abzieht (Stefan J. Zweig leidet an schwerer Schuppenflechte und muss immer wieder ans Tote Meer fahren, um im wahrsten Sinn des Wortes «seine Haut zu retten», wie er es ausdrückt), so wie es unsereinem «die Schuhe auszieht» vor Zorn über die Vielfältigkeit all der Worte, die von ihm und seinem Vater handeln, aber nur mit sich selbst Handel treiben, um sich an jeden zu verkaufen, der sie haben will. Dieses Buch hier hat keinen Verleger, aber es ist um kein Wort verlegen, aber nicht, weil es geschwätzig wäre, bloßes Gerede, sondern weil es dem geschwätzigen Schweigen des Ausradierens, des Aufrechnens, des deutschen Buchhalterwesens mit bloßen Händen und abgezogener Haut entrissen worden ist, die Belegzettel sind also aus dem riesigen Haufen herausgesucht und geborgen worden. Indem es unaufhörlich spricht, das Buch, beweist es ebenso unaufhörlich, dass es aus nichts andrem als dem Schweigen kommen kann. Aus diesem Buch geht die Wahrheit hervor, und zwar aus etwas, das bisher abwesend und verlogen war. Etwas andres als das Schweigen hätte dieses Buch nie hergegeben. Das Schweigen hat dieses Buch herausgegeben, kein Verleger hat es herausgegeben. Und sein Reden ist, im Gegensatz zum Dichten eines Bruno Apitz oder eines Hans Joachim Schädlich, ein SAGEN. Was sagt es, und was sagt es uns (das ist wirklich nicht dasselbe, das Sagen und das jemandem Sagen!)? Es sagt einfach Namen, Namen, Namen aus der Materialkammer, der Effektenkammer des wenig effektvollen Nichts, des Weniger als Nichts (wenn vorher etwas da war, was nachher nicht mehr da ist, dann ist weniger als nichts da) Namen am Steilhang, am Abbruch des Schweigens, nicht zum Nutzen von irgendetwas, zur Rechtfertigung für etwas, nicht zum Beweis, dass man existiert, obwohl das nicht vorgesehen war, sondern um im Sagen hinter das bloße Sprechen und Reden zu schauen. Der Rest sind also Namen. Und diese Liste allein ist schon zu lang, um sie hier aufzuführen. Stille Stille, kein Geräusch gemacht. Das Geräusch machen schon andre, und es kommt von wo andersher. Wen wundert es noch, dass die Wahrheit so selten gesagt wird? Fragt man nach der Wahrheit, dann fragt man nach dem, WAS IST, und es sind zu viele verschwunden, als dass es noch allzu viel Wahrheit geben könnte.
Wien, am 8. Mai 2005
Elfriede Jelinek
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